Relevanz der EU-Richtlinie 2019/882 für Schweizer Unternehmen

Im Rahmen seiner Bachelor-Arbeit untersucht Nils Kümin auf 143 Seiten die Relevanz der EU-Richtlinie 2019/882 für Schweizer Unternehmen und liefert wertvolle Erkenntnisse für Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

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EU-Richtlinie 2019/882

In der heutigen digitalisierten Welt ist Barrierefreiheit ein immer wichtigeres Thema. Die EU-Richtlinie 2019/882, auch bekannt als der European Accessibility Act (EAA), setzt neue Standards für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen innerhalb der EU. Doch welche Auswirkungen hat diese Richtlinie auf Schweizer Unternehmen?

Hintergrund und Beweggründe der EU-Richtlinie 2019/882

Die EU-Richtlinie 2019/882 wurde am 17. April 2019 vom Europäischen Parlament verabschiedet und muss bis Juni 2025 in nationales Recht umgesetzt werden. Ziel dieser Richtlinie ist es, einheitliche Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen innerhalb der EU zu etablieren.

In der EU-Richtlinie 2019/882 führen das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union eingangs 104 Beweggründe an, die zur Verabschiedung der Richtlinie in Erwägung gezogen wurden. Aus Gründen der Verständlichkeit wird nachfolgend das «Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union» zusammengefasst und durch «EU» abgekürzt. Unter den 104 Beweggründen zählen beispielsweise:

1

Punkt 1 & 2

Ziel ist es, die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Produkten und Dienstleistungen zu erhöhen und damit verbunden eine inklusivere Gesellschaft zu fördern, in der Menschen mit Beeinträchtigungen unabhängiger leben können (EU, 2019, S. 1).

2

Punkt 8

Die Notwendigkeit einer Harmonisierung der nationalen Vorschriften auf Unionsebene wird hervorgehoben, um Marktfragmentierung zu überwinden, Skaleneffekte zu erzielen, den grenzüberschreitenden Handel zu erleichtern und Innovationen zu fördern (EU, 2019, S. 2).

3

Punkt 52, 66 & 70

Die Herausforderung von begrenzten Ressourcen bei Kleinstunternehmen und KMU wird anerkannt und adressiert die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen für einige Wirtschaftsakteure eine unverhältnismässige Belastung darstellen könnte. Es wird festgehalten, dass eine gesonderte Behandlung von Kleinstunternehmen und KMU benötigt wird (EU, 2019, S. 8-10).

4

Punkt 84

Die Bedeutung einer effektiven Marktüberwachung und Durchsetzung der Richtlinienbestimmungen wird betont, um sicherzustellen, dass Produkte und Dienstleistungen tatsächlich die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllen (EU, 2019, S. 11).

Europäische Unternehmenslandschaft

Im Artikel 3 der EU-Richtlinie 2019/882 werden die Begriffsbestimmungen definiert, wobei insbesondere zwei Definitionen von besonderer Bedeutung sind:

1

Kleinstunternehmen

Gemäss EU-Richtlinie 2019/882 ist ein Kleinstunternehmen ein Unternehmen, das maximal zehn Personen beschäftigt und das entweder einen Jahresumsatz von höchstens 2 Millionen EUR erzielt oder dessen Jahresbilanzsumme sich auf höchstens 2 Millionen EUR beläuft (EU, 2019, S. 16).

2

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU)

Gemäss EU-Richtlinie 2019/882 ist ein KMU ein Unternehmen, das weniger als 250 Personen beschäftigt und das entweder einen Jahresumsatz von höchstens 50 Millionen EUR erzielt oder dessen Jahresbilanzsumme sich auf höchstens 43 Millionen EUR beläuft (EU, 2019, S. 16).

Die Definition eines Kleinstunternehmen und KMU wird von der EU auch ausserhalb dieser Richtlinie als Empfehlung an ihre Mitgliedsstaaten kommuniziert (EU, o.D.).

An dieser Stelle wird die europäische Unternehmenslandschaft betrachtet und ihre Verteilung analysiert. Es wird festgestellt, dass 92,8% der europäischen Unternehmen in die Kategorie «Kleinstunternehmen» fallen. In die Kategorie KMU gliedern sich 7% der europäischen Unternehmen ein und 0,2% der Unternehmen werden als Grossunternehmen kategorisiert (Loesche, 2017).

Erkenntnisse zur Europäischen Unternehmenslandschaft

Im Artikel 4 Absatz 5 wird klargestellt, dass Dienstleistungen von Kleinstunternehmen von der Erfüllung der Barrierefreiheitsanforderungen und von allen Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Erfüllung dieser Anforderungen ausgenommen sind (EU, 2019, S. 18-19). Weiter wird im Artikel 14, der Ausnahmen für unverhältnismässige Belastung und grundlegende Veränderungen vorsieht, festgehalten, dass Kleinstunternehmen, die mit Produkten befasst sind, nur auf Verlangen der Marktüberwachungsbehörde eine Beurteilung nach Artikel 14 Absatz 2 vornehmen und übermitteln müssen (EU, 2019, S. 22-23).

Werden diese Erkenntnisse kombiniert, kann festgehalten werden, dass die EU-Richtlinie 2019/882 für 92,8% aller europäischen Unternehmen, welche für 29,5% der Beschäftigten und 21,2% der Bruttowertschöpfung verantwortlich sind, keine respektive nur auf Verlangen Anwendung findet.

Für die übrigen 7,2% der europäirschen Unternehmen stellt der Artikel 14 mit seiner Formulierung eine mögliche Lücke dar, da unabhängig von der Unternehmensgrösse bei einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung oder einer unverhältnismässigen Belastung des Wirtschaftsakteurs eigenständig auf die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen verzichtet werden kann. Im Gegensatz zu Kleinstunternehmen müssen KMU und Grossunternehmen allerdings unaufgefordert eine Beurteilung vornehmen und auf Verlagen der Marktüberwachungsbehörde übermitteln (EU, 2019, S. 22-23). Kriterien zur Beurteilung der unverhältnismässigen Belastung finden sich im Anhang VI (EU, 2019, S. 46).

Darüber hinaus spezifiziert der Artikel 2 eine zusätzliche Ausnahme, die die Anwendung der Richtlinie 2019/882 auf gewisse Inhalte von Websites und mobilen Anwendungen ausschliesst. Darunter fallen aufgezeichnete Medien und Dateien von Büro-Anwendungen, die vor dem 28. Juni 2025 veröffentlicht wurden, sowie Online-Karten und Kartendienste und Inhalte von Dritten, die vom betroffenen Wirtschaftsakteur weder finanziert noch entwickelt wurden (EU, 2019, S. 15).

Ein weiteres Detail ist die Ausformulierung des Artikels 2, wonach nur Produkte, die nach dem 28. Juni 2025 in Verkehr gebracht werden und Dienstleistungen, die für den Verbraucher bestimmt sind, unter den Geltungsbereich der EU-Richtlinie 2019/882 fallen (EU, 2019, S. 14-15). Zwar wird der Begriff «Inverkehrbringen» in der EU-Richtlinie 2019/882 definiert (EU, 2019, S. 16), jedoch existiert in der EU keine allgemeingültige Definition, sodass dessen Bedeutung je nach Produkt und jeweiliger Verordnung variieren kann. Diese Inkonsistenzen führen zu Widersprüchen und stützen sich auf weitere Begriffe wie «Bereitstellung», die ebenfalls keine klare Definition besitzen (Salewski, 2019). Eine ähnliche Inkonsistenz stellte der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments (EPRS) bei der Definition des «Verbrauchers» fest (Valant, 2015, S. 6).

Trotz der prozentual geringen Anzahl an KMU und Grossunternehmen erhofft sich die EU eine Verbesserung. Der folgende Abschnitt liefert einen Erklärungsversuch.

Erklärungsversuch zur erhofften Verbesserung

Die untenstehende Abbildung visualisiert die Verteilung des Traffics auf Websites und Apps. Die Y-Achse zeigt die verbrachten Stunden in Millionen, während die X-Achse die Websites und Apps nach den auf ihnen verbrachten Stunden auflistet. Aus der Abbildung geht hervor, dass die Top 100 Websites und Apps für 71,8% der Nutzungszeit verantwortlich sind. Erweitert man die Betrachtung auf die Top 500 Websites und Apps, so steigt dieser Anteil auf 85,7%. Alphabet und Meta sind alleine für mehr als einen Drittel der Nutzungszeit verantwortlich (Andree & Thomsen, 2020). Die Konzentration zeigt, dass eine geringe Anzahl Marktteilnehmer für einen überproportionalen Anteil am Traffic verantwortlich sind, wodurch Massnahmen zur Barrierefreiheit auf diesen Plattformen einen überproportionalen Einfluss haben.

Ausserhalb des digitalen Sektors ist eine ähnliche Konzentration zu erwarten, obwohl keine spezifischen Quellen gefunden werden konnten, die die prozentuale Verteilung von Produkten und Dienstleistungen auf Kleinstunternehmen, KMU und Grossunternehmen aufschlüsseln. Ein Hinweis auf die vermutete Konzentration bietet jedoch die Bruttowertschöpfung aus der Abbildung 48. Obwohl KMU und Grossunternehmen gemeinsam 7,2% aller Unternehmen in der EU ausmachen, sind sie für 78,8% der Bruttowertschöpfung verantwortlich.

Relevanz für Schweizer Unternehmen

Aus einem «nice to have» wird ein «must have», so auch für Schweizer Unternehmen (Witzel, 2023). Alle Schweizer Unternehmen, die in der EU aktiv sind und in den Geltungsbereich der EU-Richtlinie 2019/882 fallen, müssen ihre Produkte und Dienstleistungen an diese anpassen (Johänning, 2024).

Die Unternehmenslandschaft in der Schweiz ähnelt der in der EU (BFS, 2021) und schlussfolgert in der Erkenntnis, dass für rund 10,24% der Schweizer Unternehmen die EU-Richtlinie 2019/882 Anwendung findet, sofern diese in der EU tätig sind.

Das BFS kategorisiert Unternehmen ausschliesslich nach Anzahl der Mitarbeitenden, während die EU eine Unterteilung nach Anzahl der Mitarbeitenden, Jahresumsatz und Bilanzsumme vornimmt. Die unterschiedlichen Ansätze können bei einer Gegenüberstellung zu Diskrepanzen führen.

Entscheidungsdiagramm für Schweizer Unternehmen zur EU-Richtlinie 2019/882

Um Schweizer Unternehmen ein strategisches Werkzeug für die Bewertung der Relevanz zu bieten, wird nachfolgend ein Entscheidungsdiagramm präsentiert, das die Entscheidungsfindung unterstützt. Das folgende Diagramm dient lediglich als Orientierungshilfe und kann von den spezifischen rechtlichen Anforderungen in den jeweiligen EU-Mitgliedsstaaten abweichen.

Weitere Informationen

Wenn Sie Fragen zur Barrierefreiheit haben oder Unterstützung bei der Umsetzung der EU-Richtlinie 2019/882 benötigen, zögern Sie nicht, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Nils Kümin steht Ihnen mit seinem Fachwissen und seiner Erfahrung zur Seite, um Ihr Unternehmen barrierefrei und zukunftssicher zu gestalten.